Wenn Menschen länger auf dieser Erde sind, dann sollen sie auch länger eine hohe Lebensqualität haben, sagt die Longevity-Bewegung. Welche Rolle spielen Banken und Fintechs für die längere Lebensdauer?
Wir werden immer älter: Laut Prognose des Statistischen Bundesamtes könnte die durchschnittliche Lebenserwartung im Jahr 2060 für Männer auf 84,8 und für Frauen auf 88,8 Jahre ansteigen. Zum Vergleich: Aktuell liegt sie bei 78,5 bzw. 83,4 Jahren. Longevity ist der trendige Begriff für diese steigende Lebensdauer und Longevity-Techs sind die Unternehmen, die ihren Beitrag dazu leisten wollen, diese lange Lebenszeit weiter zu verlängern oder zumindest zu verbessern.
Da geht es genauso um die App, die Menschen in Bewegung halten soll, den Pflegeroboter, der mit den Menschen in Pflegeheimen interagiert, oder um neueste Biotech-Erfindungen. Aber zu einem langen Leben gehört eben auch, dass man sich das Altern leisten können muss. Innerhalb der Longevity-Bewegung spricht man dann von Longevity-Fintech, ein zugegebenermaßen noch sehr kleiner Markt. In Deutschland gibt es sehr wenige Startups, die dazu gezählt werden können, darunter die Neobank Brygge.
Cornelia Schwertner ist eine der Gründerinnen dieses Hamburger Fintechs, das seine App die „smarte Lesebrille beim Banking“ nennt. Einfach, weil man ab einem bestimmten Alter halt etwas mehr Unterstützung braucht – und ihr Unternehmen will sie bieten. Ihre Zielgruppe nennen sie bei Brygge „Menschen in der zweiten Hälfte ihres Lebens“. „Bei diesen Menschen geht es nicht mehr um den langfristigen Vermögensaufbau“, erzählt uns Cornelia im Gespräch. „Es geht eher darum, wie man Vermögen sinnvoll wieder abbaut, wenn es da ist. Sonst geht es eher darum, wie man bis zum Monatsende durchhält.”
Diesen Menschen bieten die Macherinnen von Brygge nicht etwa ein neues Konto, sondern eine auf Open Banking basierende App, in der ein vorhandenes Konto – zum Beispiel von einer Sparkasse – eingebunden wird. Sicherlich eine gute Entscheidung, schließlich sinkt statistisch gesehen mit dem Alter die Wahrscheinlichkeit, dass jemand sein Girokonto wechselt.
Auf der Brygge-Website ist zu lesen, dass 70 Prozent der Menschen ab 60 Jahren noch nicht den Schritt ins Online-Banking gegangen sind. Angesichts des drastischen Filialsterbens der vergangenen Jahre bedeutet das für die Zielgruppe auf kurz oder lang ein Problem.
Hip, aber altersdiskriminierend
Applause, ein US-Unternehmen, das sich auf App-Tests spezialisiert hat, hat 2022 weltweite Banking-Apps auf Herz und Nieren geprüft. Eines der Ergebnisse: Nicht alle Kund:innen können die Apps und Online-Auftritte von Banken gleich gut nutzen. Die Finanzbranche baut immer fortschrittlichere Angebote, die jedoch selten richtig barrierefrei sind.
Dabei spricht Applause den Finanzunternehmen nicht das Bewusstsein dafür ab. Jedoch würde der ständige Innovationsdruck schnell dazu führen, dass Details übergangen werden, die nur einen kleinen Kundenkreis betreffen, etwa Menschen mit Sehbeeinträchtigung, die auf Bildschirmleser angewiesen sind. Wenn dann im Backend nicht alle interaktiven Elemente sinnvoll benannt seien, könne eine Nutzerin nicht mehr erkennen, was sie nun machen müsse, um in der App fortzufahren.
Dazu kommen Anglizismen und experimentelle Designs, bemängelt die Expertin Agnieszka Walorska. Seit Jahren beschäftigt sich die Berliner Unternehmerin (Panq) mit Fragestellungen rund um IT und digitale Ethik. Unter anderem hat sie Fintech-Lösungen auf ihre Tauglichkeit für eine ältere Nutzerschaft untersucht. „Viele sind es gewohnt, ihre Kontoauszüge in Ordnern abzuheften“, sagt sie über die Zielgruppe. „Solche Gewohnheiten legt man gerade in dem Alter noch schwieriger ab, als als junger Mensch.“ Das bedeute jedoch nicht, dass diese Menschen nicht bereit seien, zum Beispiel Online-Transaktionen zu tätigen. Nur kämen sie eben bei dem Tempo der technologischen Weiterentwicklung nicht mehr mit.
Top-Kundengruppe wird ignoriert
Es ist schon erstaunlich, dass sich Banken genau wie Fintechs dieser Zielgruppe nicht besser annehmen. „Longevity“ setzt sich als Trendbegriff dafür gerade erst durch, doch das Thema ist altbekannt. Dass wir älter werden, ist keine Überraschung – und wird sich vor allem auch nicht ändern. Auch die Generationen Zett, Alpha und irgendwann Beta werden aus all den für die Jüngeren konzipierten Produkten herauswachsen.
Dennoch ist Brygge in Deutschland das bisher einzige Fintech in diesem Bereich. Finanziert werden soll das Unternehmen durch ein solidarisches, nach dem Vermögenslevel abgestuftes Bezahlmodell: Die vermögende Kundschaft soll ein Stück weit auffangen, was die weniger gut Betuchten nicht zahlen können. „Das Ziel ist eine Gemeinschaft, die sich selbst trägt“, erklärt Cornelia. „Wir glauben daran, dass die Menschen erkennen werden, dass es künftig solche solidarischen Geschäftsmodelle braucht.“
Klar ist, dass die Zielgruppe enorm heterogen ist: Ein durchschnittlicher Neurentner hat andere Ziele und Pläne als die betagte Kundin, die bereits seit drei Jahrzehnten ihre Pension genießt. Allen gemein ist derzeit aber, dass sie keine Digital Natives sind, dass sie also in einer analogen Welt aufgewachsen sind und die allgegenwärtige Digitalisierung erst zu einem Zeitpunkt für ihr Leben relevant wurde, als man diese nicht mehr ganz so leicht lernen konnte. Viele begegnen der Technik mit Skepsis, anderen fehlt es einfach an der nötigen Medienkompetenz. Dazu steigt mit dem Alter der Kundschaft statistisch die Wahrscheinlichkeit, dass sich körperliche Gesundheit, Fitness im Umgang mit digitalen Medien und auch finanzielle Bedürfnisse von denen der jüngeren Kundschaft unterscheiden.
Aspekte wie Betrugsprävention werden auf einmal wichtiger und gehören wenig verwunderlich auch zu den Versprechen von Brygge.
Angebote, die kein Alter haben
Longevity ist eine Entwicklung, der sich kein Finanzinstitut entziehen kann. Zumal selbst die hyperdigitalen, mobilen Nachwuchs-Generationen von heute irgendwann da sein werden, wo 60-, 70- oder 80-jährige Kund:innen heute stehen… Am besten wäre, wenn es in Banking-Apps gar keine Extra-Einstellung für ältere Zielgruppen geben müsse, gibt Agnieszka Walorska zu verstehen. Ob Bilderkennung, Speech-to-text oder Künstliche Intelligenz: Die Technik sei doch da und von aufgeräumten Oberflächen würden am Ende alle Kundinnen und Kunden profitieren.
Ja, liebe Banken: Ein kluges, barrierefreies Backend, das die Bedürfnisse der Ältesten berücksichtigt, ließe sich mit anderer Oberfläche vielleicht gleichzeitig für die ersten Schritte der Jüngsten in die Finanzwelt nutzen. Und auch die Altersstufen dazwischen würden sich vermutlich nicht über weniger Komplexität im Design beschweren. Die Möglichkeiten sind da – jetzt gilt es, sie zu nutzen.
Dieser Beitrag wurde zuerst im Magazin GOLDILOCKS vom Sparkassen Innovation Hub und dem Fintech Newsletter finletter veröffentlicht. Die Autor:innen sind Caro Beese und Martin Pick. GOLDILOCKS gibt es kostenlos als App im Google Play Store und im App Store von Apple.
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